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„Zeit der Tyrannen“ von Gioconda Belli

Fühlen, dass ich nicht mehr die bin, die ich war.

Dass eine Schlingpflanze mich erwürgt.

Dass mich nicht mehr Glockenläuten weckt.

Jeden Morgen schlagen Schlangen

ihre mächtigen Fänge in meine Gedanken.

Ich , die ich einstmals Kraft und Freude war

bin jetzt zögerlich und ängstlich

und will nichts anderes

als mich verstecken

um zu schlafen.

Ich schaff es nicht, die Löwen

der Wirklichkeit zu verscheuchen

und die Visionen wachzuhalten,

die Traumgebilde, die so plötzlich

zu zerbrechlichen Trugbildern wurden

und deren donnerndes Zusammenbrechen

mir die scharfen Kanten zahlloser Scherben

ins Fleisch treibt.

 

Gioconda Belli

aus: Mich lockt die Liebe mit ihren Stacheln – Gedichte- Peter Hammer Verlag, 2022

 

Gioconda Belli wurde in Managua/Nicaragua geboren. Ab 1970 beteiligte sie sich am Widerstand gegen die Somoza-Diktatur ihres Landes. 1972 wurde sie mit dem Lyrikpreis Mario Fiallos Gil ausgezeichnet, 1978 mit dem Casa de las Americas. In Deutschland wurde die Autorin 1988 mit ihrem Roman Bewohnte Frau (Politisches Buch des Jahres) berühmt. Seit Jahrzehnten setzt sich Gioconda Belli für die Rechte der Frauen und soziale Gerechtigkeit ein und wendet sich gegen die mit diktatorischen Mitteln agierende Regierung von Daniel Ortega. Dafür wurde ihr 2018 der Hermann Kesten-Preis des deutschen PEN-Zentrums verliehen.